2. Bemerkung zu der Franz Seletyschen Arbeit
,,Beiträge zum kosmologischen System“;
(Ann. d. Phys. 68.
S. 281. 1922)
von A. Einstein.
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Es ist zuzugeben, daß die Hypothese vom ,,molekular-
hierarchischen“
Charakter des Aufbaues der Sternenwelt vom
Standpunkt der Newtonschen
Theorie manches für sich hat,
wenn auch die Hypothese von der Gleichwertigkeit
der Spiral-
nebel mit der Milchstrabe durch die letzten Beobachtungen
als
widerlegt zu betrachten sein dürfte. Diese Hypothese erklärt
ungezwungen das
Nichtbuchten des Himmelsgrundes und ver-
meidet den Seeligerschen Konflikt mit
dem Newtonschen
Gesetz, ohne die Materie als Insel im leeren Raum
aufzufassen.
Auch vom Standpunkte der allgemeinen Relativitätstheorie
ist die Hypothese
vom molekularhierarchischen Bau des Weltalls
möglich. Aber vom Standpunkt
dieser Theorie ist die Hypothese
dennoch als unbefriedigend anzusehen. Dies sei
im folgenden
noch einmal kurz begründet. Wenn die geometrischen und
die
Inertialeigenschaften des Raumes durch die Materie beein-
flußt, bzw. zum Teil
bedingt sind, so drängt sich die Ansicht
auf, daß diese Bedingtheit eine
voliständige sei, wie dies nach
der allgemeinen Relativitätstheorie der Fall ist,
wenn die
mittlere Dichte der Materie endlich und die Welt räumlich
geschlossen
ist. Ich will dies durch einen einfacheren fingierten
Fall -- wenn auch
unvollkommen -- zu illustrieren suchen.
Es sei angenommen, man würde die Gravitation nur durch
das genaue Studium
der Mechanik solcher Massen kennen,
welche uns bei Laboratoriumsversuchen zur
Verfügung stehen.
Die Kugelgestalt der Erde sei uns unbekannt. Dann könnte
man folgende Theorie aufstellen. Es existiert primär ein
vertikales ,,kosmisches“
Schwerefeld, welches sich überall ins
Unendliche erstreckt. Die Erde erstreckt sich
unten ins Un-
endliche. Ihre Gravitationswirkung sei gegen das kosmische
Schwerefeld zu vernachlässigen.1) Das kosmische Schwerefeld
wird modifiziert
durch Gravitationswirkungen von der Erfahrung
zugänglichen Massen an der
Erdoberfläche.
Obwohl das angenommene kosmische Schwerefeld der
Poissonschen Gleichung
entspricht ebenso wie die Schwere-
felder der dem Experiment zugänglichen
Massen an der Erd-
oberfläche, wäre diese Auffassung deshalb unbefriedigend,
weil
man das kosmische Feld selbst ohne materielle Ursache an-
genommen hat.
Die Idee, daß das Schwerefeld, welches in
der Hauptsache den Fall der Körper an
der Erdoberfläche
bedingt, nicht selbständig existierend, sondern durch den
Erd-
körper verursacht sei, würde gewiß als großer Fortschritt
empfunden
werden.
Daß heute das Bedürfnis einer Zurückführung des metri-
schen und
Inertialfeldes der Welt auf physikalische Ursachen
nicht ähnlich intensiv gefordert
wird, liegt nur daran, daß
dieses letztere Feld als physikalische Realität nicht so
deutlich
gefühlt wird, wie im obigen Beispiel die physikalische Realität
des
,,kosmischen Schwerefeldes“. Einer späteren Generation
wird aber diese
Genügsamkeit unbegreiflich erscheinen.
Die ,,molekular-hierarchische Welt“ erfüllt ebensowenig
wie die ,,Inselwelt“ das
Machsche Postulat, nach welchem
die Trägheitswirkung des einzelnen Körpers
durch die Gesamt-
heit aller übrigen im gleichen Sinne bedingt sein soll, wie seine
Gravitationskraft. Es ist mir schwer verständlich, wieso. Hrn.
Selety dieser Mangel
seines Systems hat entgehen können.
Dieser Mangel ist um so schwerwiegender,
als man in der all-
gemeinen Relativitätstheorie auch ohne Betrachtungen kosmo-
logischen Charakters zeigen kann, daß sich die Körper der ersten
Näherung so
verhalten, wie es nach dem Machschen Gedanken
erwartet werden muß. Ich
verweise hierüber auf die vierte
meiner bei Vieweg erschienenen ,,Vier
Vorlesungen über
Relativitätstheorie“ (gehalten im Mai 1921 an der Universität
Princeton).
Es sei endlich noch ein Punkt erwähnt, der nicht nur in
der Seletyschen
Abhandlung, sondern vielfach in der ein-
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1) Daß diese Hypothese zum Newtonschen Gesetz nicht paßt, bitte
ich zu
entschuldigen.
schlägigen Literatur Verwirrung stiftet. Die Relativitätstheorie
sagt: Die
Naturgesetze sind unabhängig von jeder besonderen
Koordinatenwahl zu
formulieren, da dem Koordinatensystem
nichts Reales entspricht; die Einfachheit
eines hypothetischen
Gesetzes ist nur nach seiner allgemein kovarianten
Formulierung
zu beurteilen. Daraus folgt aber nicht, daß man sich die
Beschreibung durch passende Wahl des Bezugssystems nicht
erleichtern dürfe,
ohne gegen das Relativitätspostulat zu ver-
stoßen. Wenn ich z. B. die
wirkliche Welt durch die ,,Zylinder-
welt“ mit gleichmäßig verteilter Materie
approximiere und dabei
die Zeitachse parallel den Erzeugenden des ,,Zylinders“
wähle,
so bedeutet dies nicht die Einführung einer ,,absoluten Zeit“.
In
der Welt gibt es nach wie vor kein Koordinatensystem,
welches für die
Formulierung der Naturgesetze bevorzugt wäre.
Bezüglich der wirklichen Welt
ist eine exakte Definition eines
derartigen Koordinatensystems übrigens
unmöglich, auch dann,
wenn sich die wirkliche Welt durch jene Zylinderwelt
roh
approximieren läßt. Das Relativitätsprinzip behauptet nicht,
daß die
Welt gegenüber allen Koordinatensystemen in gleich
einfacher oder gar
in gleicher Weise zu beschreiben sei, sondern
nur, daß die allgemeinen
Gesetze der Natur bezüglich aller Systeme
die gleichen seien (genauer: daß
die hypothetisch möglichen
Naturgesetze bezüglich ihrer Einfachheit nur
in ihrer allgemein
kovarianten Formulierung gegeneinander abzuwägen
sind.
September 1922.
(Eingegangen 25, September 1922.)
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