8. Die Nordströmsche Gravitationstheorie
vom
Standpunkt des absoluten Differentialkalküls;
von A.
Einstein und A. D. Fokker.
--------
Bei allen bisherigen Darstellungen der Nordströmschen
Theorie der Gravitation1)
wurde als invarianten-theoretisches
Hilfsmittel lediglich die Minkowskische
Kovariantentheorie
benutzt, d. h. es wurde von den Gleichungen der Theorie ledig-
lich verlangt, daß sie linearen orthogonalen Raum-Zeittrans-
formationen gegenüber
kovariant sein sollten. Diese den
Gleichungen a priori auferlegte Bedingung schränkt
aber die
theoretischen Möglichkeiten nicht in dem Maße ein, daß man
ohne
Zuhilfenahme spezieller physikalischer Voraussetzungen
zwanglos zu den
Grundgleichungen der Theorie gelangen kann.
Im folgenden soll dargetan
werden, daß man zu einer in for-
maler Hinsicht vollkommen geschlossenen und
befriedigenden
Darstellung der Theorie gelangen kann, wenn man, wie dies
bei der
Einstein-Großmannschen Theorie bereits geschehen
ist, das invarianten-theoretische
Hilfsmittel benutzt, welches
uns in dem absoluten Differentialkalkül gegeben ist. Da
in
der Natur Bezugssysteme, auf die wir die Dinge beziehen
können, sich
uns nicht darbieten, beziehen wir die vierdimen-
sionale Mannigfaltigkeit
zunächst auf ganz beliebige Koordi-
naten (entsprechend den Gaussschen
Koordinaten in der Flächen-
theorie), und beschränken die Wahl des Bezugssystems
erst
dann, wenn uns das behandelte Problem selbst Veranlassung
hierzu
bietet.
Es erweist sich hierbei, daß man zur Nordströmschen
Theorie statt zur
Einstein-Großmannschen gelangt, wenn
man die einzige Annahme macht, es sei eine
Wahl bevorzugter
Bezugssysteme in solcher Weise möglich, daß das Prinzip von
der
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gewahrt ist.
----------
1) Vgl. G. Nordström, Ann. d. Phys. 42. p. 533. 1913; A. Ein-
stein, Phys.
Zeitschr. 14. p. 1251. 1913.
§ 1. Charakteristik des Gravitationsfeldes. Einflu des
Gravitationsfeldes auf
physikalische Vorgänge.
Wir nehmen an1), daß für einen sich in einem Gravi-
tationsfelde bewegenden
Punkt ein Bewegungsgesetz gelte, das
in Hamiltonscher Form lautet:
| (1) |
worin
| (2) |
Das Gravitationsfeld wird dann charakterisiert durch die zehn
Raum-Zeitfunktionen
g. ds ist eine Invariante bezüglich
beliebiger Substitutionen, welche in der auf
dem absoluten
Differentialkalkül begründeten allgemeinen Relativitätstheorie
dieselbe Rolle spielt wie das Euklidische Linienelement in
der Minkowskischen
Invariantentheorie. Als der einzige
Skalar, der sich auf zwei benachbarte
Raum-Zeitpunkte bezieht,
hat ds die Bedeutung des ,,natürlich gemessenen“
Abstandes
dieser zwei Raum-Zeitpunkte.
Da jeder vektoranalytischen Größe, bzw. jeder vektor-
analytischen Operation in
der Euklidischen Mannigfaltigkeit
eine allgemeinere vektoranalytische Größe bzw.
Operation in
der durch ein beliebiges Linienelement gegebenen Mannigfaltig-
keit
entspricht, lassen sich den Gesetzen der ursprünglichen
Relativitätstheorie für die
physikalischen Erscheinungen ent-
sprechende Gesetze der verallgemeinerten
Relativitätstheorie
zuordnen. Die so erhaltenen Gesetze, welche allgemein ko-
variant
sind, enthalten den Einfluß des Gravitationsfeldes auf
die physikalischen
Vorgänge.
Von allen jenen die physikalischen Vorgänge beschreibenden
Gesetzen geben wir
hier nur ein einziges an, von allgemeinster
Bedeutung: nämlich dasjenige, das dem
Erhaltungssatz des
Impulses und der Energie in der ursprünglichen Theorie der
Relativität entspricht. In jener Theorie wurden die energetischen
Eigenschaften der
Vorgänge ausgedrückt durch einen Spannungs-
Energietensor (T). Diesen Größen
T entsprechen in der
verallgemeinerten Theorie Größen I, welche die mit
----------
1) Vgl. A. Einstein, Entwurf einer verallgemeinerten Relativitäts-
theorie und
einer Theorie der Gravitation, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 62.
p. 6. 1913.
multiplizierten Komponenten eines gemischten Tensors bilden,
der aus einen
symmetrischen kontravarianten Tensor () durch
die gemischte Multiplikation
hervorgeht (g bedeutet die Determinante aus den Größen g).
Besteht z. B. das physikalische System in einer bewegten
kontinuierlichen
Massenverteilung von der Ruhedichte 0, so ist
und die physikalische Bedeutung der I geht aus folgender
Tabelle hervor1):
Xx usw. bezeichnen die Komponenten des Flächendrucks,
ix usw. die
Komponenten der Impulsdichte, fx usw. die Kom-
ponenten der Strömungsdichte der
Energie, und die Energie-
dichte.
Die erwähnten Erhaltungssätze haben in der allgemeinen
Theorie die
allgemein-kovariante Form:
| (3) |
Die rechte Seite dieser Gleichung drückt aus, daß der be-
trachtete Vorgang für sich
allein die Erhaltungssätze nicht
erfüllt, da von dem Gravitationsfeld Impuls und
Energie an
das materielle System abgegeben wird.
Allgemein beziehen sich die Komponenten I auf alle
physikalischen Vorgänge
im Raume, mit Ausschluß der das
Gravitationsfeld selbst betreffenden.
Wir wissen aus der ursprünglichen Relativitätstheorie,
daß der Energietensor
allein maßgebend ist für die Trägheits-
eigenschaften eines Systems. Aus der rechten
Seite von (3)
geht hervor, daß auch die Einwirkung eines Gravitationsfeldes
----------
1) In der Tabelle, so wie sie in der Phys. Zeitschr. XIV, p. 1257
gegeben wurde,
findet sich ein Vorzeichenfehler.
nur durch die Komponenten des Energietensors bestimmt wird.
Es entspricht dies
durchaus den Erfahrungsgesetzen von der
Gleichheit der trägen und der schweren
Masse. Wir werden
im folgenden annehmen, daß auch für die Erzeugung eines
Gravitationsfeldes durch ein materielles System der Energie-
tensor allein maßgebend
ist.
§ 2. Differentialgleichung für das Gravitationsfeld im Falle
der Nordströmschen
Theorie.
Das bisher Gesagte gilt ebenso für die Nordströmsche
wie für die
Einstein-Großmannsche Theorie; der Unter-
schied beider Theorien aber besteht im
folgenden:
Das Gravitationsfeld wird von zehn Größen g bestimmt.
Gemäß der
Einstein-Großmannschen Theorie werden für
diese zehn Größen zehn formal
gleichwertige Gleichungen an-
gegeben. Der Nordströmschen Theorie aber liegt die
An-
nahme zugrunde, daß es möglich sei, durch passende Wahl
des Bezugssystems
dem Prinzip von der Konstanz der Licht-
geschwindigkeit zu genügen. Wir wollen
sogleich zeigen, daß
dies auf die Annahme herauskommt, daß sich die zehn Größen
g bei passender Wahl des Bezugssystems auf eine einzige
Größe 2 reduzieren
lassen.
Damit nämlich das Prinzip von der Konstanz der Licht-
geschwindigkeit erfüllt
sei, muß die für die Lichtausbreitung
maßgebende Gleichung
in die Gleichung
übergehen. Daraus folgt, daß bei einer solchen Wahl des
Bezugssystems sein
muß:
wobei jetzt x1 = x, x2 = y, x3 = z und x4 = ct gesetzt ist.
Das System der g degeneriert also in
| (4) |
Zur Bestimmung der einen Größe 2 brauchen wir eine
einzige Differentialgleichung,
die wie die Poissonsche Gleichung
skalaren Charakter haben wird. Diese
Gleichung wollen wir
ebenso wie die früheren in allgemein kovarianter Form auf-
stellen, d. h. ohne zunächst die durch das Prinzip von der
Konstanz der
Lichtgeschwindigkeit nahegelegte Spezialisierung
des Bezugssystems auszuführen. die
gesuchte Gleichung ist
vollständig bestimmt durch die Annahme, daß sie
von der
zweiten Ordnung ist, wenn man noch berücksichtigt, daß sie
eine
Verallgemeinerung der Poissonschen Gleichung sein muß.
Offenbar wird sie von der
Form sein
| (5) |
wobei ein Skalar ist, der aus den Größen g und deren
ersten und zweiten
Ableitungen gebildet ist, und I ein Skalar,
der durch den materiellen Vorgang, nach
dem Gesagten also
durch die I , bestimmt ist. z bedeutet eine Konstante.
Aus den Untersuchungen der Mathematiker über die Diffe-
rentialtensoren einer
mehrdimensionalen Mannigfaltigkeit geht
hervor, daß der einzige Ausdruck, der für
in Betracht kommt,
eine Funktion ist von
Dabei bedeutet (ik,lm) den bekannten Riemann-Christoffel-
schen Tensor vierten
Ranges, der mit dem Krümmungsmaße
der Flächentheorie zusammenhängt, und
durch die Gleichung
definiert ist, wobei bedeutet 1 2 .
Ferner ist aus der allgemeinen Kovariantentheorie klar,
daß zu den I nur der
Skalar
I gehört (bzw. eine
Funktion dieser Größe).
Hieraus geht hervor, daß die gesuchte Gleichung die Form
| (5a) |
erhalten muß. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, daß in der
gesuchten Gleichung die
zweiten Ableitungen der g und die
I linear eingehen.
Die Gleichung (5a), die wir jetzt aufgestellt haben, und
die Gleichungen
(3) enthalten die Nordströmsche Theorie der
Gravitation vollständig mit
Bezug auf beliebige Raum-Zeit-
koordinaten, wenn man die Bedingungen
hinzunimmt, welche
die g erfüllen müssen, damit das Prinzip der Konstanz
der
Lichtgeschwindigkeit für ein passend gewähltes Bezugssystem
erfüllt
sei.
§ 3. Die Grundgleichungen der Nordströmschen Theorie
mit Bezug auf die dem
Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit angepaten Bezugssysteme.
Wir denken uns jetzt diejenigen Bezugssysteme bevorzugt
in bezug auf welche das
Prinzip der Konstanz der Licht-
geschwindigkeit erfüllt ist. Die Komponenten g des
Funda-
mentaltensors sind dann durch die in (4) geschriebenen Werte
gegeben. Die
zugehörigen g findet man in der Tabelle
| (4a) |
In diesem Falle erhält man ds = .
Wie schon
erwähnt, ist ds der ,,natürlich gemessene“ Abstand
zweier benachbarter
Raum-Zeitpunkte. Jetzt kann man die
Fälle unterscheiden, wo der Verbindungsvektor
raumartig oder
zeitartig ist. Im ersten Falle kann durch passende Wahl des
Bezugssystems der Vektor zu einem rein räumlichen gemacht
werden; man erhält
dann als Zusammenhang der ,,natürlich“
und der im Koordinatenmaß gemessenen
Längen
d. h. ein Maßstab von der natürlichen Länge ds hat die Ko-
ordinatenlänge ds/.
Für einen zeitartigen Verbindungsvektor verschwinden bei
passender Wahl des
Bezugssystems die räumlichen Kompo-
nenten, und man erhält
ds/i ist nichts anderes als die mit einer Uhr von bestimmter
Beschaffenheit
gemessene Zeitdauer. ds/i ist also die Zeit-
differenz im Koordinatenmaßstab.
1/ ist also der Faktor, mit dem die natürlich gemessenen
Zeiten und Längen
multipliziert werden müssen, um Koordi-
natenzeiten bzw. Koordinatenlängen zu
ergeben.
Aus der Form des Linienelementes
folgt, daß die Gleichungen der Nordströmschen Theorie nicht
nur bezüglich den
Lorentz-Transformationen, sondern auch be-
züglich Ähnlichkeitstransformationen
kovariant sind.
Die Impuls- und Energiegleichungen (3) für die Materie
nehmen die Form
an
| (3a) |
Es ist bemerkenswert, daß für den Einfluß des Gravitations-
feldes auf ein System
gemäß dieser Gleichung nur der Skalar
I maßgebend ist. Es ist dies
im Einklang mit
der Erwägung, die wir bei der Ableitung der Gleichung (5a)
gegeben
haben.
Die Differentialgleichung des Gravitationsfeldes (5a) nimmt
die Form
an
| (5b) |
(wobei k eine neue Konstante bedeutet), oder
Da das Verhältnis der natürlichen und der Koordinatenlängen
an einem Orte beliebig
gewählt werden kann, kann über die
Wahl der Konstante k noch beliebig verfügt
werden. Man
kann z. B. nach dem Vorgange von Nordström k = 1 setzen.
Man sieht, daß die abgeleiteten Gleichungen mit den von
Nordström gegebenen
vollkommen übereinstimmen.
§ 4. Schlubemerkungen.
Im vorstehenden konnte gezeigt werden, daß man bei
Zugrundelegung des
Prinzips von der Konstanz der Licht-
geschwindigkeit durch rein formale
Erwägungen, d. h. ohne
Zuhilfenahme weiterer physikalischen Hypothesen zur Nord-
strömschen Theorie gelangen kann. Es scheint uns deshalb,
daß diese Theorie allen
anderen Gravitationstheorien gegen-
über, die an diesem Prinzip festhalten, den
Vorzug verdient.
Vom physikalischen Standpunkt ist dies um so mehr der Fall,
als
diese Theorie dem Satz von der Äquivalenz der trägen
und schweren Masse strenge
Genüge leistet.
Wir bemerken, daß nur die Verwendung der Invarianten-
theorie des
absoluten Differentialkalküls uns eine klare Ein-
sicht in den formalen Inhalt der
Nordströmschen Theorie
zu geben vermag. Ferner setzt uns diese Methode in
den
Stand, die Beeinflussung beliebiger physikalischer Vorgänge
durch das
Gravitationsfeld, so wie sie nach der Nordström-
schen Theorie zu erwarten ist, ohne
Hinzuziehung neuer Hypo-
thesen anzugeben. Auch tritt die Beziehung der
Nordström-
schen Theorie zur Einstein - Großmannschen mit voller
Deutlichkeit
hervor.
Endlich legt die Rolle, welche bei der vorliegenden Unter-
suchung der Riemann -
Christoffelsche Differentialtensor
spielt, den Gedanken nahe, daß er auch für eine von
physi-
kalischen Annahmen unabhängige Ableitung der Einstein-
Großmannschen
Gravitationsgleichungen einen Weg öffnen
würde. Der Beweis der Existenz oder
Nichtexistenz eines
derartigen Zusammenhanges würde einen wichtigen theoretischen
Fortschritt bedeuten.1)
----------
1) Die in § 4, p. 36, des ,,Entwurfs einer verallgemeinerten Rela-
tivitätstheorie“
angegebene Begründung für die Nichtexistenz eines der-
artigen Zusammenhanges
hält einer genaueren Überlegung nicht stand.
(Eingegangen 19. Februar 1914.)
----------