9. Über eine Methode zur Bestimmung des Ver-
hältnisses der transversalen und longitudinalen
Masse des Elektrons; von A. Einstein.

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Drei die Kathodenstrahlen betreffende Größen gibt es,
welche einer präzisen Beobachtung zugänglich sind, nämlich
die Spannung, welche den Strahlen ihre Geschwindigkeit ver-
leiht (Erzeugungsspannung), die elektrostatische Ablenkbarkeit
und die magnetische Ablenkbarkeit. Zwischen diesen drei
Größen gibt es zwei voneinander unabhängige Beziehungen,
deren Kenntnis für bedeutende Strahlengeschwindigkeiten von
hervorragendem theoretischen Interesse ist. Eine dieser Be-
ziehungen wurde für b-Strahlen von Hrn. Kaufmann unter-
sucht, nämlich der Zusammenhang zwischen magnetischer und
elektrostatischer Ablenkbarkeit.

Im folgenden soll darauf aufmerksam gemacht werden,
daß eine zweite Beziehung zwischen diesen Größen mit hin-
reichender Genauigkeit bestimmt werden kann, nämlich die
Beziehung zwischen Erzeugungsspannung und elektrostatischer
Ablenkbarkeit der Kathodenstrahlen oder -- was dasselbe be-
deutet -- das Verhältnis der transversalen zur longitudinalen
Masse des Elektrons in Funktion der Erzeugungsspannung.

Wenn das Quadrat der Geschwindigkeit der Elektronen
sehr klein ist gegenüber dem Quadrat der Lichtgeschwindig-
keit, so gelten für die Bewegung des Elektrons die Gleichungen

 2
d-x-=  - e-X  etc.,
d t2      m0

wobei e/m0 das Verhältnis der Ladung zur Masse des Elektrons,
x, y, z die Koordinaten des Elektrons und X, Y, Z die Kom-
ponenten der elektrischen Kraft des Feldes bedeuten, falls
andere Kräfte als elektrostatische nicht auf das Elektron
wirken. Wir nehmen an, die Elektronen bewegen sich mit
der Anfangsgeschwindigkeit Null von einem gewissen Punkte
x0, y0, z0 (Kathode) aus. Die Bewegung ist dann eindeutig

bestimmt durch obige Gleichungen; sie sei gegeben durch die
Gleichungen

x = f1(t) ,
y = f2(t) ,
z = f  (t) .
      3

Denkt man sich alle elektrostatischen Kraftkomponenten
überall mit n2 multipliziert, so bewegt sich nunmehr -- wie
leicht aus den obigen Bewegungsgleichungen zu ersehen ist --
das Elektron gemäß den Gleichungen

x = f1 (n t) ,
y = f2 (n t) ,
z = f  (n t) .
      3

Hieraus folgt, daß bei Proportionaländerung des Feldes wohl
die Geschwindigkeit, nicht aber die Bahn der Elektronen sich
ändert. Eine Änderung der Bahn tritt bei Proportionaländerung
des Feldes offenbar erst bei solchen Elektrongeschwindigkeiten
ein, bei welchen das Verhältnis von transversaler und longi-
tudinaler Masse merklich von der Einheit abweicht. Wählt
man das elektrostatische Feld derart, daß die Kathodenstrahlen
eine stark gekrümmte Bahn durchlaufen, so werden bereits
geringe Verschiedenheiten der transversalen und longitudinalen
Masse einen beobachtbaren Einfluß
auf die Bahnkurve haben. Neben-
stehende schematische PIC Skizze zeigt
eine Anordnung, mittels welcher man
das Verhältnis der transversalen zur
longitudinalen Masse des Elektrons
nach dem angedeuteten Prinzip be-
stimmen könnte. Die Kathodenstrahlen
erlangen zwischen der geerdeten Ka-
thode K und der an die positive
Klemme der Stromquelle M ange-
schlossenen, zugleich als Blende dienenden Anode A ihre Ge-
schwindigkeit, werden hierauf durch das mit A verbundene
Röhrchen t in den Raum zwischen den Metallzylindern R1
und R2 eingeführt. R1 ist geerdet, R2 mit t, also mit dem

positiven Pol der Stromquelle leitend verbunden, deren nega-
tiver Pol geerdet ist. Die Dimensionen seien so gewählt, daß
sich langsame Kathodenstrahlen annähernd in einem Kreise
bewegen, und zwar in geringer Entfernung von R2. Die Strahlen
gelangen hierauf in die mit R2 metallisch verbundene, etwas
konische Metallröhre t', in welcher sich der phosphoreszierende
Schirm S befindet. Auf letzteren falle der Schatten des am
inneren Ende von t' angeordneten vertikalen Drahtes D.

Bei Anwendung langsamer Kathodenstrahlen erhält der
Schatten von D auf S eine ganz bestimmte Lage (Nullage).
Erhöht man die Erzeugungsspannung der Strahlen, so wandert
der Drahtschatten. Durch Einschalten einer Batterie B in
die Erdungsleitung von R1 werde jedoch der Schatten wieder
in die Nullage zurückgeführt.

Bezeichnet man mit TT das Potential, bei welchem die
Ablenkung der schattenbildenden Strahlen erfolgt, so ist TT
auch diejenige Spannung, welcher die in Ablenkung begriffenen
Strahlen ihre kinetische Energie verdanken. Bezeichnet ferner r
den Krümmungsradius der schattenbildenden Strahlen, so ist

mt-  r-X--
ml = 2 TT  .

Hierbei bedeutet mt die ,,transversale Masse“ des Elektrons,
ml diejenige longitudinale Masse, welche durch die Gleichung

                         2
Kinetische Energie = m v--
                       l2

definiert ist und X die ablenkende elektrische Kraft.

Nennt man P das Potential von R2 (Potential des posi-
tiven Poles der Stromquelle M), p das Potential von R1, bei
welchem sich der Schatten in der Nullage befindet, so ist

TT  = P -  a(P -  p),

wobei a eine von den Apparatdimensionen abhängige, gegen 1
kleine Konstante bedeutet. Ferner ist die Größe X der Span-
nung P - p proportional. Man erhält also aus obiger Gleichung

mt-= konst.----P----p---- ,
ml         P  - a (P - p)

oder (mit einigen erlaubten Vernachlässigungen)

            [             ]
mt-= konst.  1-  (1 + a) p .
ml                      P

Da a offenbar mit genügender Genauigkeit ermittelt werden
kann und P und p bis auf wenige Prozent genau meßbar sind,
so ist die Genauigkeit, mit welcher die Abweichung der Größe
mt/ml von der Einheit ermittelt werden kann, im wesentlichen
bestimmt durch die Genauigkeit, mit welcher auf die Nullage
des Drahtschattens eingestellt werden kann. Man überzeugt
sich leicht, daß letztere Genauigkeit so groß gemacht werden
kann, daß eine Abweichung der Größe mt/ml von der Einheit
um 0,3 Proz. (entsprechend einer Schattenverschiebung von
ca. 1 mm, wenn DS = 10 cm) noch bemerkt werden kann. Zu
erwähnen ist insbesondere, daß die unvermeidlichen Schwan-
kungen, denen beim Experiment das Potential P unterworfen
ist, nur von unbedeutendem Einfluß auf die Genauigkeit der
Messung sein können.

Wir wollen noch die Beziehung zwischen mt/ml und TT in
erster Annäherung angeben, wie sie sich aus den verschiedenen
Theorien ergibt. Wird TT in Volt ausgedrückt, so gilt

nach der Theorie von Bucherer:

mt-              --TT---
m  = 1 - 0,0070 .10000  ,
 l

nach der Theorie von Abraham:

mt-= 1 - 0,0084 .--TT--- ,
ml               10000

nach der Theorie von Lorentz und Einstein:

m                  TT
-t-= 1 - 0,0104 .------ .
ml               10000

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Da ich nicht in der Lage bin, selbst experimentell zu
arbeiten, würde es mich freuen, wenn sich ein Physiker für
die dargelegte Methode interessierte.

Bern, August 1906.

(Eingegangen 4. August 1906.)

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