<date/><place/><translator/><lang>de</lang><cvs_file/><cvs_version/><locator/><filename>Reichenbach_an_MS_19201129.html</filename></info><text><pb/> <p type="place" id="id7866960"><emph type="underline">Stuttgart, </emph></p> <p type="date" id="id7867104">den 29. November 1920<lb/></p> <p type="address" id="id7867248">Knospstr. 5</p> <p type="title" id="id7867320">Sehr verehrter Herr S c h l i c k !<lb/></p> <p type="main" id="id7867464">Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren ausführlichen Brief.<note id="id7867536" n="1"><p type="main" id="id7867608"> Moritz Schlick an Hans Reichenbach, Rostock, 26. November 1920.</p></note><lb/> Ich habe danach in der Tat den Eindruck, dass unsere Differenzen we-<lb/> sentlich geringen sind, als ich glaubte. Für Ihre ausführliche Kri-<lb/> tik bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar, denn ich empfinde jeden<lb/> Zwang, meine Meinungen schärfer zu formulieren, als ein Mittel zur<lb/> besseren Erkenntnis. Und ich freue mich, dass es auch mal unter<lb/> Philosophen möglich sein soll, sich auf objektive Resultate zu eini-<lb/> gen.<lb/> </p> <p type="main" id="id7868256">Dass Ihre Auffassung mit meiner in der konstitutiven Bedeutung<lb/> der Zuordnungsprinzipien so weitgehend übereinstimmt, ist mir eine<lb/> grosse Freude. Ich hatte nach der Lektüre Ihrer „Allgemeinen Erkennt-<lb/> nislehre'<note id="id7893184" n="2"><p type="main" id="id7893256"> Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin: Springer 1918.</p></note> geglaubt, dass Sie darin anders urteilen würden, weil Sie<lb/> dort das „Ding an sich' so definieren, wie die Kantianer sonst den<lb/> Gegenstand der Erscheinung definieren. Darum habe ich seinerzeit<lb/> in einer Besprechung der Zeitschrift für angewandte Psychologie<note id="id7893544" n="3"><p type="main" id="id7893616"> Hans Reichenbach, „[Rezension von:] Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre', in: Zeitschrift für allgemeine Psychologie, Jg. 16, 1920, S. 341-343.</p></note><lb/> (ich kann Ihnen leider kein Exemplar beilegen, da ich keines mehr<lb/> besitze) manches an Ihrem Buche ausgesetzt, was ich heute, nach Ihrem<lb/> ausführlichen Brief, nicht mehr sagen würde. Wenn aber meine Bemer-<lb/> kung, dass Sie vielfach nur bis an den Anfang der Probleme geführt<lb/> hätten, so verstanden werden darf, dass Sie diese Weiterführung in<lb/> einem Buche über Naturphilosophie geben werden, so würde ich mich<lb/> sehr freuen, und ich bitte Sie deshalb, in jener Bemerkung meines<lb/> Referats nicht einen Ausdruck verminderter Achtung zu sehen.<lb/></p> <p type="main" id="id7894336">Über die Beurteilung der Kant'schen Philosophie sind wir uns<lb/> nun, glaube ich, im wesentlichen einig. Dass meine Kritik einen Bruch<lb/> mit einem sehr tiefen Prinzip Kants bedeutet, glaub ich auch (vergl.<lb/> S. 89 meines Buches<note id="id7894624" n="4"><p type="main" id="id7894696"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920.</p></note>). Wenn es mir trotzdem schien, dass meine Auf-<lb/> fassung als eine neuere Fortführung der Kant'schen angesehen werden<lb/> kann, so liegt das wohl daran, dass mir die Betonung des konstitutiven<pb/> Charakters im Objektivbegriff immer als das Wesentlichste bei Kant er-<lb/> schienen ist - vielleicht nur deshalb, weil ich persönlich diese Ge-<lb/> danken zuerst durch Kant gelernt habe. Es ist so schwer, zu sagen,<lb/> was Kant selbst für den Kern seiner Lehre gehalten haben würde.<lb/> Immerhin hat er doch in den Mittelpunkt seiner Lehre die transzen-<lb/> dentale Deduktion gestellt und damit versucht, die Evidenz als F o l -<lb/> g e des konstitutiven Charakters abzuleiten. In den Prolegomena<lb/> dreht er das Problem allerdings anders herum und nimmt die Evidenz<lb/> zum Ausgang. Dann wieder scheint es mir, dass er sich der Doppelbe-<lb/> deutung des a-priori-Begriffes nicht klar bewusst gewesen ist, sondern<lb/> beide Bedeutungen vermengte - ähnlich, wie man vor Einstein das<lb/> Problematische in der Identität von schwerer und träger Masse nicht<lb/> b e a c h t e t hat, obgleich diese Trennung nicht u n b e k a n n t<lb/> war. Auch glaube ich, aus meiner grossen Hochachtung gegen Kant heraus,<lb/> dass er, wenn er heute lebte, die Relativitätstheorie anerkennen<lb/> würde, und seine Philosophie ändern würde; und ich würde Kant gern<lb/> vor den Kantianern bewahren. - Aber, ob man meine Ideenrichtung dann<lb/> noch Kantianismus nennen soll, ist nur noch eine terminologische<lb/> Frage, und wohl besser zu verneinen.<lb/></p> <p type="main" id="id7896352">Nun zur Frage der G e o m e t r i e. Ich gebe Ihnen zu, dass<lb/> auch jetzt noch eine euklidische Geometrie durchführbar wäre, und<lb/> teile also Ihren und Einsteins Standpunkt. Aber das geht nur, wenn<lb/> man, wie Sie ja auch betonen, gewisse a n d e r e Forderungen auf-<lb/> gibt. Gerade an dieser <emph type="underline">Alternative</emph> ist mir eigentlich am meisten<lb/> gelegen, und ich sehe einen wesentlichen Teil der philosophischen<lb/> Arbeit (wenn auch keineswegs die g a n z e !) darin, solche Alter-<lb/> nativen klar heraus zu stellen. In dieser Absicht sind Abschnitt 2<lb/> und 3 meines Buches geschrieben. Die dort gegebenen Prinzipientafeln<lb/> (S.15 und 29)<note id="id7901304" n="5"><p type="main" id="id7901376"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 15 und S. 29.</p></note> sollen vor ein solches "Entweder - oder" führen. Die<lb/> meisten Einwände der Philosophen (wie z.B. Kraus, Sellien<note id="id7901520" n="6"><p type="main" id="id7901592"> Vgl. Oskar Kraus, „Fiktion und Hypothese in der Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen', in: Annalen der Philosophie, Bd. 2, H. 3, 1921, S. 335-396 und Ewald Sellien, „Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie', in: Kann-Studien, Ergänzungsheft 48, 1919.</p></note> u.a., die<lb/> die Relativitäts-Theorie nicht verstanden haben) scheinen mir<lb/> darauf zu beruhen, dass sie nicht bemerken, wie mit der Durchführung<lb/> der euklidischen Geometrie andere Prinzipien, die ihnen ebenso heilig<pb/> sind, verloren gehen. So glaube ich, dass ein echter Kantianer<lb/> ebensowenig das Relativitätsprinzip aufgeben kann, wie den euk-<lb/> lidischen Raum, denn Kants Idealität des Raumes hat ohne Relati-<lb/> vität der Koordinaten keinen rechten Sinn, und ist mit Newton's<lb/> Lehre nicht zu vereinbaren (obgleich, wie Sie einmal richtig be-<lb/> merkt haben gegenüber Einstein, auch Newton's Lehre nicht phi-<lb/> losophisch f a l s c h ist). Ich will nun keineswegs behaupten,<lb/> dass aus meiner Prinzipientafel S. 29<note id="id7902456" n="7"><p type="main" id="id7902528"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 15.</p></note> folgt, dass der euklidische<lb/> Raum aufgegeben werden muss, man kann ebensogut schliessen, dass<lb/> die Relativität aufgegeben werden muss. Nur in der Behauptung<lb/> der <emph type="underline">Alternative</emph> scheint mir die objektive Erkenntnis zu liegen.<lb/></p> <p type="main" id="id7902960">Die Physik wählt allerdings die e r s t e Entscheidung, und<lb/> ich muss Ihnen offen zugeben, dass ich nicht recht weiss, wie ich<lb/> das begründen soll, so sehr ich mit meinem physikalischen Gefühl<lb/> derselben Meinung bin. Sie, und Poincaré, würden sagen, um der<lb/> Einfachheit halber; und Sie haben in Ihrem Buche dieses Prinzip<lb/> sehr schön von dem Oekonomieprinzip der Positivisten als ein <emph type="underline">logisches</emph><lb/> Prinzip geschieden. Aber ich habe ein starkes Misstrauen gegen die-<lb/> sen Begriff. Ich halte es vorläufig für sicherer, genau zu analy-<lb/> sieren, um welcher Einzelprinzipien willen (z.B. Relativität, appro-<lb/> ximierbares Ideal usw.) man eine bestimmte Entscheidung wählt.<lb/> Nach welcher R a n g o r d n u n g hier entschieden wird, weiss<lb/> ich vorläufig einfach nicht. Mir ist das Einfachheitsprinzip nicht klar<lb/> genug formulierbar, und es erscheint mir nicht eindeutig.<lb/></p> <p type="main" id="id7904040">Manchmal dachte ich auch so: der Erkenntnisgehalt der Wissen-<lb/> schaft besteht überhaupt nur in derartigen Alternativen, und die<lb/> fortschreitende Entwicklung in der Aufstellung von immer m e h r<lb/> und immer e n g e r e n Alternativen. Dann ist das von der<lb/> Physik bevorzugte System nicht „ w a h r e r ' als die andern,<lb/> sondern wirklich nur praktischer; da man doch nicht alle Alterna-<lb/> tiven ausfindig machen kann, beschränkt man sich auf die Verfol-<lb/> gung der einfachsten Theorie aus wirklicher Denkökonomie. Dann<lb/> wäre das Oekonomieprinzip kein logisches, sondern ein praktisches.<pb/> Aber ich habe auch gegen diese Deutung eine instinktive Abneigung,<lb/> und enthalte mich der Entscheidung, bis ich durch Analysen noch<lb/> mehr solche Alternativen zusammengestellt habe. Darum bin ich in<lb/> meiner Schrift auf dieses Problem gar nicht eingegangen; für die<lb/> Kritik des a-priori-Begriffes genügte die A l t e r n a t i v e.<lb/></p> <p type="main" id="id7905048">Sie fragen mich, warum ich meine Prinzipien a priori<lb/> nicht K o n v e n t i o n e n nenne. Ich glaube, über diese Frage<lb/> werden wir uns sehr leicht einigen. Obgleich mehrere Systeme von<lb/> Prinzipien möglich sind, ist doch immer nur eine G r u p p e von<lb/> Prinzipien-Systemen möglich; und in dieser Einschränkung liegt<lb/> eben doch ein Erkenntnisgehalt. Jedes mögliche System besagt in sei-<lb/> ner Möglichkeit eine E i g e n s c h a f t der Wirklichkeit. Ich<lb/> vermisse bei Poincaré eine Betonung, dass die Willkürlichkeit der<lb/> Prinzipien eingeschränkt ist, sowie man Prinzipien k o m b i n i e r t.<lb/> Darum kann ich den Namen „Konvention' nicht annehmen. Auch sind<lb/> wir nie sicher, dass [wir] nicht zwei Prinzipien, die wir heute nebenein-<lb/> ander als konstitutive Prinzipien bestehen lassen und die also bei-<lb/> de nach Poincaré C o n v e n t i o n e n sind, morgen wegen<lb/> neuer Erfahrungen trennen müssen, sodass zwischen beiden Konven-<lb/> tionen die Alternative als synthetische Erkenntnis auftritt. Ich<lb/> gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, damit Ihre Meinung ebenso<lb/> zu treffen.<lb/></p> <p type="main" id="id7918696">Nun noch die Frage der E i n d e u t i g k e i t. Wenn man<lb/> Erkenntnis so definiert, wie Sie, ist Eindeutigkeit ein analytisches<lb/> Urteil. Aber ich glaube eben nicht, dass man das Erlebnis "Erkennt-<lb/> nis" abschliessend definieren darf. Ich glaube, dass Eindeutigkeit<lb/> ebenso ein Prinzip ist, wie alle anderen, Relativität, Homogenität<lb/> des Raumes, Kausalität usw. Zwar scheint es in der Rangordnung sehr<lb/> hoch oben zu stehen, aber wer kann wissen, in welche Alternativen die-<lb/> ses Prinzip einmal einbezogen wird? Wenn man, wie Sie es als zwei-<lb/> te Möglichkeit für den von mir fingierten Fall der Grösse C + K . <lb/> vorschlagen, den Begriff der Einfachheit e r w e i t e r t, so<lb/> hat man eben diesen Begriff <emph type="underline">geändert</emph>, und nur noch den Namen bei-<pb/> behalten. Und das behaupte ich auch nur: dass man keinen der<lb/> für die Erkenntnis-Zuordnung benutzten Begriffe so definieren<lb/> kann, dass er vor der Änderung prinzipiell bewahrt bleibt. Darin<lb/> scheint mir erst die letzte Überwindung des Kant'schen Aprioritäts-<lb/> begriffes zu liegen. Wenn man, in der Kritik des Raumbegriffes<lb/> durch die fortschreitende Wissenschaft, vor die Alternative der<lb/> Prinzipientafel S. 29<note id="id7920064" n="8"><p type="main" id="id7920136"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 29.</p></note> kommt, so eröffnen sich ebenso die 2 Wege,<lb/> die Sie für den Fall C + K .  angeben. Erweitert man jetzt den<lb/> Raumbegriff zum Riemann-Einstein'schen, so wählt man den zweiten<lb/> Weg. Der erste Weg aber hiesse, eine nichteuklidische Physik ist<lb/> keine Erkenntnis. Von da zu der Forderung: also suchen wir aller<lb/> Erfahrung zum Trotz eventl. unter Benützung der Dehnbarkeit des<lb/> Induktionsschlusses dennoch eine euklidische Physik durchzuführen,<lb/> ist nur ein Schritt. Sie würde sagen: Euklidizität gehört nicht<lb/> zum Erkenntnisbegriff. Darin unterscheiden Sie sich von Kant. Aber<lb/> warum gehört Eindeutigkeit zum Erkenntnisbegriff? Mein in Anmerkung<lb/> 27<note id="id7920928" n="9"><p type="main" id="id7921000"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 109f.</p></note> gegen Sie erhobener Vorwurf ist, was ich jetzt bedaure, etwas<lb/> spitz formuliert, und nach Ihrer jetzigen Erklärung Ihrer Auf-<lb/> fassung der Zuordnungsprinzipien würde ich diese Form sehr gerne<lb/> zurücknehmen. Ich gebe Ihnen natürlich zu, dass Sie niemals, wie<lb/> es die Kantianer tun, Ihren Eindeutigkeitsbegriff d o g m a t i s c h<lb/> gemeint haben. Aber ich glaube auch, dass Kant selbst nicht so dog-<lb/> matisch aufzufassen ist, wie es die Kantianer lieben. Aber was hat<lb/> er mit seiner Aprioritätstheorie schliesslich anderes behauptet, als<lb/> dass alle unsere Erkenntnis unserem Erkenntnisbegriff gemäss sein<lb/> würde? Sie setzen hier „Wahrheitsbegriff' anstelle von „Erkenntnisbe-<lb/> griff'; aber das ist doch nur eine inhaltlich andere Bestimmung<lb/> des Erkenntnisphänomens. Dass auch Ihr Eindeutigkeitsbegriff nicht<lb/> <emph type="underline">leer</emph> ist - sowenig wie Kants Kategorien - wollte ich mit dem Bei-<lb/> spiel C + K . zeigen. Aber auch Ihr erweiterter Eindeutigkeits-<lb/> begriff ist nicht <emph type="underline">leer</emph>. Denken Sie sich mehrere Grössen der Form<lb/> C + K .  als Ursache und Wirkung „hintereinandergeschaltet', dann<lb/> ist es auf keine Weise möglich, aus dem beobachteten Resultat die-<lb/> se Grössen einzeln hinterher eindeutig einem Zahlwert K zuzuordnen.<pb/> Sie würden dann den Erkenntnisbegriff wieder erweitern müssen und<lb/> wohl kaum noch den Namen „Eindeutigkeit' aufrecht erhalten. Auch<lb/> Ihr Wahrheitsbegriff kann doch nur heissen: unser positiv vorlie-<lb/> gendes System der Erkenntnis benutzt die Eindeutigkeit als Wahrheits-<lb/> kriterium (bzw. Definition). Daraus eine Folgerung auf jede spä-<lb/> tere Erkenntnis zu ziehen, halte ich für unberechtigt. Kant hat<lb/> diesen Schluss für notwendig gehalten, weil ihm die Vernunft unver-<lb/> änderlich schien (vergl. die von mir aus der Kritik der Urteils-<lb/> kraft zitierten Worte S. 68<note id="id7927248" n="10"><p type="main" id="id7927320"> Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: AA, Bd. 5, Berlin 1913, Einleitung Abschnitt V, S. 184f.</p></note>). Aber in Ihrem System erschien mir<lb/> eine solche Schlussweise immer störend (S. 344 Ihrer Erkenntnislehre<note id="id7927464" n="11"><p type="main" id="id7927536"> Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin: Springer 1918, S. 344.</p></note>).<lb/> Übrigens teilt Einstein meinen Standpunkt in dieser Frage.<lb/></p> <p type="main" id="id7927752">Noch eine Bemerkung: wenn Sie Psychologismus so definieren,<lb/> dass der Begriff der Konstanten ohne das Gleichheitserlebnis unmög-<lb/> lich wäre, so bin ich auch Psychologist. Aber was ist dies anders<lb/> als der kantische Satz: das "Ich denke" muss alle meine Vorstellun-<lb/> gen begleiten können?<lb/></p> <p type="main" id="id7928184">Ihre Bemerkungen über die letzten Seiten meines Buches sind<lb/> sehr richtig. Sie sind in der Tat nur die flüchtige Andeutung eines<lb/> Problems, keine Aufklärung. Aber ich sehe auch in Ihren Worten noch<lb/> keine Erklärung dessen, was mir daran problematisch scheint.<lb/> Dass die „Evidenz' des euklidischen Raumes wegen seiner praktischen<lb/> Verwendbarkeit e n t s t a n d e n ist, glaube ich auch. Aber sie<lb/> bleibt doch ein sehr merkwürdiges Phänomen. Wenn ich z. B einen geo-<lb/> metrischen Beweis vollziehe, so ist dazu das logische Wissen der<lb/> Axiome nicht hinreichend, es muss noch der Gegenstand anschaulich<lb/> gedacht sein, obgleich gar nicht von physikalischen Geraden die<lb/> Rede ist. Auch in der nichteuklidischen Geometrie kann ich mir An-<lb/> schauungen bilden. Z.B. kann ich mir gut vorstellen, dass 8 recht-<lb/> winklige Würfel, alle mit einer Ecke zusammengelegt, nicht schlies-<lb/> sen. Damit setze ich aber wieder andere Eigenschaften der Würfel<lb/> anschaulich, z.B. dass jeder 8 Ecken hat. Was ist dies für eine Be-<lb/> stimmtheit des Gegenstandes? Das Problem trifft allerdings den<lb/> Gegenstandsbegriff der Mathematik, - nicht mehr der Physik -, aber<pb/> ohne mathematischen Gegenstand scheint mir der physikalische wieder nicht<lb/> möglich. Aber ich will auch nicht behaupten, dass ich nun in<lb/> d i e s e n Worten das Problem klarer gemacht hätte als in meinem<lb/> Buch.<lb/></p> <p type="main" id="id7929768">Zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich würde mich sehr freuen,<lb/> wenn Sie gelegentlich über das Induktions- und Wahrscheinlichkeits-<lb/> problem arbeiten würden, denn hier liegen in der Tat noch grosse<lb/> Probleme. Ich erlaube mir, Ihnen einige Arbeiten von mir über die-<lb/> sen Gegenstand beizufügen. Ich stehe darin, besonders in meiner<lb/> Dissertation<note id="id7934360" n="12"><p type="main" id="id7934432"> Hans Reichenbach, „Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die mathematische Darstellung der Wirklichkeit', in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 161, 1916, S. 209-239; Bd. 162, 1917, S. 98-112 und 222-239 sowie Bd. 163, 1917, S. 86-98.</p></note>, dem Kant'schen Standpunkt allerdings wesentlich näher<lb/> als heute und muss für eine Berichtigung auf Anmerkung 24 meiner<lb/> Relativitäts-Schrift<note id="id7934648" n="13"><p type="main" id="id7934720"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 109.</p></note> verweisen. Für die Analyse des Problems selbst<lb/> macht das aber sehr wenig aus, sodass ich denke, dass Ihnen diese<lb/> Arbeiten wertvoll sein könnten.<lb/></p> <p type="main" id="id7935008">Herr Professor Révész<note id="id7935080" n="14"><p type="main" id="id7935152"> Gezá Révész, Psychologe (geb. 9. Dezember 1878 in Siófok, gest. 19. August 1955 in Amsterdam).</p></note> schrieb mir dieser Tage und will mich<lb/> nächster Tage aufsuchen. Ich werde mich sehr freuen, wenn ich ihm<lb/> behilflich sein kann, und will Ihnen dann gerne weiter berichten.<lb/></p> <p type="salutation" id="id7935440">Ich bin mit herzlichen Grüssen <lb/></p> <p type="salutation" id="id7935584">Ihr<lb/></p> <p type="salutation" id="id7935728">Hans Reichenbach<lb/></p> <p type="main" id="id7935872">[Handschriftliche Bemerkung von Schlick:]</p> <p type="main" id="id7935944">Der Vergleich zwischen Eindeutigkeit bei mir + Euklidizität bei<lb/> Kant ist nicht berechtigt, denn selbst wenn man die Euklidizität<lb/> in <emph type="underline">meinen</emph> Erk.begriff aufnehmen wollte, wäre die Gültigkeit<lb/> der Euklid. Geometrie für die Physik ein <emph type="underline">analytisches</emph><lb/> Urteil, nicht synthetisch wie bei Kant. Genau ebenso<lb/> hat schon Helmholtz seinen Erk.begriff dem Kantischen<lb/> gegenübergestellt.<lb/></p> <p type="main" id="id7936664">In der „Deduktion' sucht Kant die Evidenz aus der Kon-<lb/> struktivität abzuleiten, zu erklären; in den Proleg. geht er<lb/> von ersterer als Erkenntnisgrund der letzteren aus - also kein<lb/> Widerspruch.<lb/></p> </text></archimedes>