<date/><place/><translator/><lang>de</lang><cvs_file/><cvs_version/><locator/><filename>Reichenbach_an_MS_19210910.html</filename></info><text><pb/> <p type="place" id="id7865448">Stuttgart,</p> <p type="date" id="id7865376">d. 10. 9. 21.<lb/></p> <p type="address" id="id7865232">Knospstr. 5</p> <p type="title" id="id7865088">Sehr verehrter Herr Schlick,<lb/></p> <p type="main" id="id7864800">ich danke Ihnen sehr für Ihre freundliche<lb/> Karte<note id="id7865880" n="1"><p type="main" id="id7865952"> Moritz Schlick an Hans Reichenbach, Rostock, 10. August 1921.</p></note>, die ich erst verspätet beantworte, da ich erst<lb/> jetzt von einer Ferienreise zurückkomme. Es freut<lb/> mich, dass Sie meine Ausführungen<note id="id7866168" n="2"><p type="main" id="id7866240"> Hans Reichenbach, „Erwiderung auf H. Dinglers Kritik an der Relativitätstheorie', in: Physikalische Zeitschrift, Jg. 22, 1921, 379f.</p></note> gegen Dingler<note id="id7866312" n="3"><p type="main" id="id7866384"> Hugo Dingler, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker (geb. 7. Juli 1881 in München, gest. 29. Juni 1954 in München).</p></note><lb/> billigen. Ich verstehe gut, dass Sie bei einem<lb/> Referat über ihn<note id="id7866600" n="4"><p type="main" id="id7866672"> Moritz Schlick, „[Rezension von:] Hugo Dingler, Physik und Hypothese. Versuch einer induktiven Wissenschaftslehre nebst einer kritischen Analyse der Fundamente der Relativitätstheorie, Berlin u .a.: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger 1921', in: Die Naturwissenschaften, Jg. 9, 1921, S.778-779.</p></note> nicht mehr ganz sachlich bleiben<lb/> konnten; mir ist es auch schon einmal bei<lb/> Dingler so gegangen. Diesmal wollte ich ihn aber<lb/> wirklich sachlich nehmen, weil er soviel<lb/> publiziert in physikal. Fachzeitschriften, dass es<lb/> sicher schon viele Physiker gibt, die ihn ernst<lb/> nehmen.<pb/></p> <p type="main" id="id7867248">Sehr dankbar bin ich Ihnen auch für<lb/> Ihre freundliche Kritik meines Buches in<lb/> den Kantstudien<note id="id7867464" n="5"><p type="main" id="id7867536"> Moritz Schlick, „Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch Zur Einsteinschen Relativitätstheorie', in: Kant-Studien, Bd. 26, 1921, S.96-111, v.a. S.110f.</p></note>. Ich bin auch sehr froh darüber,<lb/> dass die von mir früher vermuteten Meinungs-<lb/> verschiedenheiten durch unseren Briefwechsel<lb/> seinerzeit so weitgehend geklärt werden konnten.<lb/> Auch mit Ihren Bemerkungen zu Cassirers<lb/> Buch<note id="id7867968" n="6"><p type="main" id="id7868040"> Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Berlin: Bruno Cassirer Verlag 1921.</p></note> bin ich sehr einverstanden. Es ist wirklich<lb/> eine geistvolle Schrift und der Nachweis, dass<lb/> Einsteins Theorie in der Entwicklungsrichtung <lb/>der Physik liegt, wird mit hoher philosophischer<lb/> Kultur geführt. Aber die Zustimmung zu<lb/> Einstein gelingt Cassirer nur, weil er sich -<lb/> und das schon seit vielen Jahren - weitgehend von<lb/> Kant entfernt hat. Gerade im Raumproblem, wo<lb/> die Differenzen am deutlichsten wurden, fehlt<pb/> Cassirer die entscheidende Schärfe; denn wenn<lb/> die euklidischen Axiome nicht mehr Bedingung<lb/> der Erfahrung sind, ist damit nicht nur ein <emph type="underline">Resultat</emph><lb/> Kants, sondern seine <emph type="underline">Methode</emph> selbst erschüttert,<lb/> die ja <emph type="underline">apodiktische</emph> Resultate liefern wollte.<lb/> Auch Ihre Bemerkungen gegen Sellien<note id="id7768080" n="7"><p type="main" id="id7768152"> Ewald Sellien, „Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie', in: Kant-Studien, Ergänzungsheft 48, 1919.</p></note> u. I. Schneider<note id="id7768224" n="8"><p type="main" id="id7768296"> Ilse Schneider, Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein, Berlin 1921.</p></note><lb/> sind sehr treffend; I. Schneider hat sich die<lb/> Frage doch entschieden zu leicht gemacht - mit<lb/> Kant-Philologie ist das Relativitäts-Problem nicht<lb/> zu lösen.<lb/></p> <p type="main" id="id7768728">Gerade heute sah ich aus der Zeitung,<lb/> dass Sie einen Ruf nach Erlangen erhalten<lb/> haben. Ich erlaube mir, Ihnen dazu meinen<lb/> herzlichen Glückwunsch auszusprechen; ich<lb/> halte es für einen wirklich grossen Erfolg,<pb/> dass endlich einmal ein Philosoph, der sich<lb/> von den herrschenden Historizismus grundsätzlich<lb/> entfernt hat und endlich wieder systematische<lb/> Erkenntnistheorie treibt, ein Ordinariat besetzen<lb/> soll.<lb/></p> <p type="main" id="id7769520">Dabei ist mir ein Gedanke gekommen - vielleicht<lb/> findet sich in den nächsten Wochen Gelegenheit,<lb/> dass ich Sie persönlich kennen lernen könnte?<lb/> Ich bin vom Samstag, d. 17. Sept. bis Ende der Woche<lb/> in Jena zum Physikertag, und würde sehr gern auf<lb/> der Hin- oder Rückreise in Erlangen Aufenthalt<lb/> nehmen, wenn Sie etwa gerade dort sein sollten.<lb/> Oder werden Sie auch nach Jena kommen? Ich<lb/> würde mich sehr gern mit Ihnen über eine längere<lb/> Untersuchung zur Axiomatik der Einsteinschen Zeitlehre<lb/> unterhalten, die ich jetzt abgeschlossen habe.<lb/></p> <p type="salutation" id="id7766352">Ich bin, mit den besten Grüssen Ihr<lb/></p> <p type="salutation" id="id7766496">Hans Reichenbach</p> </text></archimedes>