<date/><place/><translator/><lang>de</lang><cvs_file/><cvs_version/><locator/><filename>Reichenbach_an_MS_19220502.html</filename></info><text><pb/> <p type="place" id="id7839656">Stuttgart, </p> <p type="address" id="id7838432"><emph type="underline">Teckstr.</emph> 75</p> <p type="date" id="id7410216">2. Mai 1922</p> <p type="title" id="id7410000">Sehr verehrter Herr Schlick,</p> <p type="main" id="id7410144">es freut mich sehr, dass Sie mit meinem<lb/> Bericht über die Rel. Diskussion<note id="id7409784" n="1"><p type="main" id="id7409856"> Hans Reichenbach, „Der gegenwärtige Stand der Relativitätstheorie. Eine kritische Untersuchung', in: Logos, Jg. 10, 1921, S.316-378.</p></note> einverstanden sind.<lb/> Besonders würde es mich interessieren, ob Sie mit<lb/> meiner Auffassung Ihrer Ansicht einverstanden<lb/> sind, und ob Sie meiner Bemerkung über Hume<lb/> (S. ) Recht geben, über deren Richtigkeit ich mir<lb/> selbst nicht ganz klar bin. Auch würde ich Sie gern um<lb/> Ihr Urteil über den Abschnitt über Petzoldt bitten.<lb/></p> <p type="main" id="id7410720">An die Preisaufgabe der Ann. d. Philos.<lb/> hatte ich ja auch schon gedacht, aber es ist schade, wenn<lb/> man eine solche Arbeit, die gerade für den Augenblick<lb/> notwendig ist, ein Jahr liegen lassen muss. Auch ist es dann<lb/> unangenehm, zu den eigenen Arbeiten Stellung nehmen<lb/> zu müssen, ohne die Identität zu verraten.<pb/> </p> <p type="main" id="id7411224">In der Beurteilung des Karussell-Problems<note id="id7411296" n="2"><p type="main" id="id7411368"> Hans Reichenbach, „Erwiderung auf Herrn Th. Wulfs Einwände gegen die Relativitätstheorie', in: Astronomische Nachrichten, Bd. 213, Nr. 5107, 1921, S. 307-310. Reichenbach kritisiert darin die Ausführungen in Theodor Wulf, „Tatsachen zur allgemeinen Relativitätstheorie' in: Astronomische Nachrichten, Bd. 212, Nr. 5084-85, 1921, S. 379-382.</p></note><lb/> befinden Sie sich, glaube ich, in einem Irrtum;<lb/> und zwar wird dieser Irrtum merkwürdigerweise<lb/> häufig gemacht. Man kann nicht gut von der Trägheit<lb/> der Welt inbezug auf das Karussell sprechen; so<lb/> einfach ist Trägheit nicht zu definieren. Träge<lb/> Masse im gewöhnlichen Sinne besitzen nur<lb/> „Probekörper', d.h. solche, die das Feld nicht<lb/> wesentlich stören. Das Karussell ist Probekörper<lb/> für die Welt, aber nicht umgekehrt; so einfach<lb/> kann man nicht relativieren. Will man die Welt<lb/> in Bewegung setzen, so gehören dazu ganz enorme<lb/> Kräfte. Und es ist ganz unmöglich, dass diese<lb/> Kräfte von dem Pferd aufgebracht werden, auch<lb/> schon wegen der Geschwindigkeit. Die starke Raum-<lb/> krümmung kann diese Paradoxie nicht beseitigen.<lb/> Das sieht man am besten so: wenn auch der Zahl-<pb/> wert der Geschw. grösser als 300000 km sein kann, so ist<lb/> doch keine Wirkung rascher als das Licht an der gleichen<lb/> Stelle zur gleichen Zeit. Es würde also die Kraft des Pferdes<lb/> den Sirius nicht eher erreichen, als der Lichtblitz einer<lb/> Lampe, die gleichzeitig auf dem Karussell aufleuchtet, und<lb/> wir würden die Drehung des Sirius nicht eher sehen, als<lb/> ein Antwortsignal vom Sirius, das beim Eintreffen des Lampen-<lb/> signals dort abgeht, bei uns ankommt, d.h. also nach<lb/> etwa 16 Jahren! Diese Überlegung ist streng, denn man<lb/> kann bei rotierendem Karussell u. ruhender Welt den Weg<lb/> des Signals Erde-Sirius-Erde ausrechnen und das Punktereignis<lb/> „Rückkehr d. Signals auf d. Karussell in Koinzidenz mit einer auf dem<lb/> Karussell aufgestellten Uhr' bestimmen; dies Punktereignis<lb/> ist denn invariant gegen den Übergang zum rotierenden<lb/> Koord. system.<lb/></p> <p type="main" id="id7573552">So einfach lässt sich also die Kausalität nicht<lb/> retten. Ich habe inzwischen in einer zweiten Notiz<note id="id7573696" n="3"><p type="main" id="id7573768"> Hans Reichenbach, „Relativitätstheorie und absolute Transportzeit', in: Zeitschrift für Physik, Jg. 9, 1922, S. 111-117.</p></note><lb/> diesen Gedanken weitergeführt, da mir der Einwand<lb/> erhoben wurde, dass dann das Grav. Feld <emph type="underline">zufällig</emph> in<lb/> demselben Augenblick entstehen würde, wo das Karussell<pb/> in Drehung kommt. Aber Gravitation ist für<lb/> die Rel. Th. ein Relativ-Begriff, ein Tensorfeld,<lb/> es bedeutet die <emph type="underline">Beziehung</emph> zweier Grössen. Ich lege<lb/> Ihnen diese kl. Notiz bei. Die Ursache des Grav.<lb/> Feldes sind die Fixsterne, die das Feld erzeugen,<lb/> ähnlich wie ein gleichförmig bewegtes Elektron<lb/> ein elektrisches Feld erzeugt, von<lb/> dem das Elektron selber fortgedrückt wird.<lb/> In jedem Koord. System hat das Grav. Feld andere<lb/> Masszahlen. Man kann wohl verlangen, dass bei<lb/> gegebenem Bezugsystem die Masszahlen quantitativ<lb/> auf Ursachen zurückgeführt werden können, aber<lb/> man darf die Ursachen nicht in den Mechanismus<lb/> suchen, der das Bezugssystem als reales Ding<lb/> herstellt. Auch wenn gar kein Karussell u. Pferd da ist,<lb/> kann man ja die Welt von einem rotierenden System<lb/> beschreiben, und das zugehörige Grav. Feld ist gerade so<lb/> real wie jedes andere. Die Ursachen müssen vielmehr<lb/> für jedes Bezugssystem <emph type="underline">dieselben</emph> sein. So wie die<pb/> Fixsterne in der Kopernikanischen Auffassung das<lb/> nahezu euklidische [Formel?]-Feld mit lokalen Verzerrungen<lb/> erzeugen, so erzeugen sie in der Ptolemäischen Auffassung<lb/> das tensorielle Drehfeld. Diese Kausalzusammenhänge<lb/> sind das eigentlich Invariante. - -<lb/></p> <p type="main" id="id7576072">Die Schrift von Mie<note id="id7576144" n="4"><p type="main" id="id7576216"> Gustav Mie, Die Einsteinsche Gravitationstheorie: Versuch einer allgemein verständlichen Darstellung der Theorie. Leipzig: Hirzel 1921.</p></note> habe ich einfach<lb/> vergessen; sie ist in der Tat sonderbar. Einstein schrieb<lb/> mir, dass ich auch auf Kretzschmann hätte eingehen<lb/> sollen; das wäre auch wohl gut gewesen. Ich bin mir<lb/> allerdings über die Bedeutung von Kretzschmanns<lb/> Einwand nicht klar, u. muss erst noch mit Einstein<lb/> darüber korrespodieren.<lb/></p> <p type="salutation" id="id7576792">Ich bin mit bestem Gruss, auch an Herrn Scholz,<lb/></p> <p type="salutation" id="id7576936">Ihr sehr ergebener<lb/></p> <p type="salutation" id="id7577080">H. Reichenbach</p> </text></archimedes>