<date/><place/><translator/><lang>de</lang><cvs_file/><cvs_version/><locator/><filename>Reichenbach_an_MS_19220816.html</filename></info><text><pb/> <p type="name" id="id7574992">Dr. HANS REICHENBACH</p> <p type="place" id="id7575064">STUTTGART-OSTHEIM</p> <p type="address" id="id7575136">TECKSTRASSE 75 </p> <p type="date" id="id7575208">16. 8. 22</p> <p type="title" id="id7575280">Sehr verehrter Herr Schlick,</p> <p type="main" id="id7575352">Ich danke Ihnen herzlich<lb/> für Ihren Brief<note id="id7575496" n="1"><p type="main" id="id7575568"> Moritz Schlick an Hans Reichenbach, Kiel, 15. August 1922.</p></note> u. die Zusendung der<lb/> Neuauflage Ihrer schönen Schrift<note id="id7575712" n="2"><p type="main" id="id7575784"> Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. 4. Aufl. Berlin: Springer 1922.</p></note>. Es hat<lb/> mich sehr gefreut, dass Sie mit meiner<lb/> letzten Arbeit so weitgehend einverstanden<lb/> sind. Bei den Ausführungen über die<lb/> Evidenz d. Geometrie hatte ich natürlich<lb/> besonders an Sie gedacht, u. es freut mich<lb/> sehr, dass Sie die gleichen Gedanken in Ihrem<lb/> Seminar vorgetragen haben. Das Problem ist<pb/> für mich immer noch nicht fertig, aber<lb/> die Richtung steht wohl fest. In dem Kapitel<lb/> über das „Prinzip der Rel.' habe ich ja eben-<lb/> falls an einen Gedanken von Ihnen ange-<lb/> knüpft (leider war mir ein Hinweis auf<lb/> Ihre Arbeit<note id="id7576792" n="3"><p type="main" id="id7576864"> Moritz Schlick, „Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips', in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 159, H. 2, 1915, S. 129-175.</p></note> von 1915 in der Korrektur nicht<lb/> mehr möglich, da ich nur die 2. Korr. erhielt.<lb/> Durch die Unterscheidung von erkenntnis-<lb/> theoretischer und physikalischer Relativität ist<lb/> diese Frage jetzt wohl endgültig beantwortet,<lb/> auch die Frage nach der Evidenz des Rel. Pr.<lb/> </p> <p type="main" id="id7577440">Ich hatte in den letzten Wochen<pb/> einen interessanten Briefwechsel mit<lb/> Herrn Driesch. Er ist Gegner der Rel. Th.,<lb/> und schon der speziellen. Seine Einwände<lb/> beruhten z.T. auf Missverständnissen;<lb/> trotzdem ist es mir nicht gelungen, ihn zu<lb/> gewinnen, denn am Schluss kam er stets mit<lb/> der „Schau', gegen die es kein Argument gibt.<lb/> Z.B. gehört er nach ihm zum Wesen der Bewegung, dass<lb/> ein Lichtstrahl nicht 2 verschieden<lb/> bewegten Punkten gegenüber denselben<lb/> Bewegungszustand haben kann. Im Grunde<lb/> besteht ja alle derartige Diskussion in<lb/> dem Versuch, dem Gegner durch psychologische<pb/> Überlistung diese Schau „abzugewöhnen'.<lb/> Leider gelingt dies meistens nur sehr un-<lb/> vollständig. Es tut mir in diesem Falle<lb/> besonders leid, da ich von Driesch den<lb/> Eindruck eines sehr unabhängigen Denkers<lb/> hatte. Was halten Sie eigentlich von seinem<lb/> Vitalismus<note id="id7742784" n="4"><p type="main" id="id7742856"> Vgl. Hans Driesch, Geschichte des Vitalismus. 2. verb. u. erw. Aufl., Leipzig: Barth 1922.</p></note>?<lb/></p> <p type="main" id="id7743000">Sehr gefreut hat es mich, dass Sie nun<lb/> doch nach Wien gehen, Sie werden dort<lb/> jedenfalls einen viel schöneren Wirkungs-<lb/> kreis haben als bisher. Ich wünsche Ihnen<lb/> von Herzen Glück zu diesem Schritt. Auch<lb/> hat es mich sehr interessiert, dass Sie jetzt<lb/> in der Ethik arbeiten; werden Sie bald darin<pb/> etwas veröffentlichen?<lb/></p> <p type="main" id="id7743648">Ich möchte Ihnen von Herzen<lb/> dafür danken, dass Sie sich in so weitgehender<lb/> Weise für mich eingesetzt haben bei der<lb/> Wiederbesetzung Ihres Lehrstuhls. Ich hatte,<lb/> wie das so geht, schon von anderer Seite davon<lb/> gehört, und ich muss Ihnen sagen, dass es<lb/> mir ein grosser Trost war, dass überhaupt<lb/> einmal an mich gedacht wurde in diesem<lb/> Zusammenhang. Freilich weiss ich, dass<lb/> eben die Gründe, die Sie mir nennen, in<lb/> den Augen einer Fakultät gegen mich<lb/> sprechen. Damit steht es nun so. Ich bin eigentlich<pb/> gar nicht so einseitig physikalisch eingestellt<lb/> wie es nach meinen Arbeiten scheint. Ich bin aber<lb/> durch die Entwicklung der letzten 8 Jahre<lb/> zwangsweise dahingeführt worden. Sie müssen<lb/> wissen, dass ich seit dieser Zeit ohne jede<lb/> pekuniäre Hilfe bin, und weitaus den grössten<lb/> Teil meiner Zeit auf Gelderwerb verwenden<lb/> muss; 2 ½ Jahre war ich Soldat, 3 Jahre<lb/> als Physiker in der Industrie, und seit 2 Jahren<lb/> bin ich hier als <emph type="underline">physikalischer</emph> Assistent. So<lb/> bringt mich mein Beruf immer wieder mit<lb/> der Physik in Berührung, und es fehlt nur an<lb/> Zeit, meinen allgemeineren Interessen nach-<pb/> zugehen. Auch jetzt, wo ich immerhin mehr<lb/> Zeit habe als in der industriellen Stellung,<lb/> muss ich noch viel Zeit auf Nebenerwerb<lb/> verwenden, da mein Assistentengehalt<lb/> für mich u. meine Familie nicht<lb/> ausreicht. So ist es gekommen, dass ich<lb/> sehr viel weniger Arbeiten fertigstellen<lb/> konnte, als ich unter andern Umständen<lb/> gekonnt hätte.<lb/></p> <p type="main" id="id7472448">Irgend eine harmlose historische<lb/> Arbeit zu veröffentlichen, würde mir<lb/> natürlich nicht schwerer fallen, und ich<lb/> bin Ihrem Rat sehr dankbar und werde<pb/> gern versuchen, ihn in geeigneter Form zu<lb/> befolgen. Aber an eine ernstere Arbeit<lb/> wage ich mich immer noch nicht heran,<lb/> weil ich das Gefühl habe, dass hier noch zu<lb/> viel Vorarbeiten fehlen. Z.B. reizt mich<lb/> seit langem das Problem der Willensfreiheit,<lb/> aber da fehlen mir noch gewisse Unter-<lb/> suchungen. Und ich halte es nun einmal<lb/> für das zentrale Leiden der modernen<lb/> sogenannten Philosophie, dass zuviel<lb/> Allgemeines gesagt wird, anstatt dass erst<lb/> einmal ganz bescheiden die Spezialprobleme<lb/> gelöst werden.<pb/> </p> <p type="main" id="id7473744">Mit den alten Sprachen stehe<lb/> ich nun einmal auf Kriegsfuss. Ich habe sie<lb/> in meiner Jugend nicht gelernt, und bin für<lb/> meine Person sogar froh darüber, und heute<lb/> kann ich sie natürlich nicht mehr nachlernen.<lb/> Schon bei meiner Promotion (Philosophie<lb/> als Hauptfach) hatte ich deswegen Schwierigkeiten.<lb/> Sogar Natorp, der „Philosoph der exakten<lb/> Wissenschaften', lehnte mich deshalb als<lb/> Doktoranden ab.<lb/></p> <p type="main" id="id7474536">Unter diesen Umständen habe ich wenig<lb/> Hoffnung, dass ich jemals auf einen richtigen<lb/> philos. Lehrstuhl kommen wede. Die<lb/> Widerstände werden überall dieselben sein<pb/> wie in Kiel, denn das Niveau der Fakultäten<lb/> ist ja überall das gleiche. Meine Hoffnung<lb/> ging in anderer Richtung; ich hoffte, dass<lb/> schliesslich einmal von mathemat.-<lb/> physikal. Seite die Errichtung philos. Lehrstühle<lb/> gefordert würde, die speziell der Philosophie der<lb/> exakten Wissenschaften gewidmet wären.<lb/> Gerade die Physiker sind<lb/> durchwegs wenig erbaut von der herrschenden<lb/> Philosophie, und man kann schliesslich, auch<lb/> wenn man die akademische Schulphilosophie<lb/> weniger geringschätzt als z.B. ich, der Meinung<lb/> sein, dass neben ihr eine Philosophie der<lb/> exakten Wissenschaften dringend nötig ist.<pb/> Leider aber wird von physikalischer Seite gar nicht<lb/> in dieser Richtung gearbeitet. Im Grunde<lb/> hält eben doch jeder Physiker die<lb/> Philosophie für so eine Art von überflüssigem<lb/> Luxus, weil sie nichts „Neues' herausbringt,<lb/> wobei er nämlich unter „Neuem' physikalische<lb/> Einzelresultate versteht. So kommt es, dass<lb/> gerade die Wissenschaft, von der eine<lb/> neue Befruchtung der Philosphie ausgeht,<lb/> nichts für eine systematische Durchbildung<lb/> der Philosophie tut.<lb/></p> <p type="main" id="id8195432">So beurteile ich also meine Aus-<lb/> sichten recht pessimistisch. Da Sie sich<lb/> nun einmal in so liebenswürdiger Weise<pb/> für mich verwandt haben, und mir auch<lb/> Ihren Rat zur Verfügung stellen, so erlaube<lb/> ich mir, Sie hierin um Ihr Urteil zu bitten.<lb/> Glauben Sie, dass in absehbarer Zeit einmal<lb/> eine solche besondere Stellung geschaffen<lb/> würde, die für mich in Frage kommt?<lb/> Oder glauben Sie, dass der andere Weg,<lb/> auf einen der bisher vorhandenen Lehrstühle,<lb/> für mich in Frage kommt? Dafür spricht<lb/> übrigens, dass ich jetzt hier einen Lehrauftrag<lb/> für Philosophie, ganz allgemein, (allerdings<lb/> völlig unbezahlt !!) bekommen habe.<lb/></p> <p type="main" id="id8143976">Ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihnen so offen schreibe,<lb/> aber ich bin Ihnen durch Ihr Eintreten für mich u. Ihr freundliches<lb/> Anerbieten, mir weiterzuhelfen, so sehr verpflichtet, dass ich<lb/> Ihnen die Schwierigkeiten, die mit meiner Situation<lb/> verbunden sind, nicht verschweigen möchte. </p> <p type="salutation" id="id8143256">Ich bin mit<lb/> bestem Gruss Ihr sehr ergebener</p> <p type="salutation" id="id8143112">Hans Reichenbach</p> </text></archimedes>