<date/> <place/> <translator/> <lang>de</lang> <cvs_file>/REICHENBACH_AN_MS_1923_06_1.xml</cvs_file> <cvs_version/> <locator/> </info> <text> <body> <chap> <pb/> <p type="main" id="id7906696">Hans Reichenbach an Moritz Schlick</p> <p type="main" id="id7906768"/> <p type="main" id="id7906840"/> <p type="main" id="id7906912">Dr. HANS REICHENBACH</p> <p type="main" id="id7906984">STUTTGART-OSTHEIM</p> <p type="main" id="id7907056">TECKSTRASSE 75</p> <p type="main" id="id7907128">13. 6. 23.</p> <p type="main" id="id7907416"/> <p type="main" id="id7907488">Sehr verehrter Herr Schlick, </p> <p type="main" id="id7907560">ich bin Ihnen ausserordentlich dankbar, dass Sie<lb/> trotz Ihrer Überlastung Zeit für ein Schreiben<note id="id7907632" n="1"> <p type="main" id="id7907704">Moritz Schlick an Hans Reichenbach, Wien, 26. März 1923.</p> </note> an mich<lb/> fanden. Ich bin sehr froh, dass wir in allen Punkten überein-<lb/> stimmen und hoffe, dass die Hauptfragen jetzt bald<lb/> alle geklärt sind. Ich würde eben sehr gern bald an Springer<lb/> mit ausgeführtem Programm herantreten. Wenn Sie<lb/> in Oberbayern sind, kann ich Sie vielleicht im August<lb/> für einige Tage aufsuchen, es ist ja nicht so weit von<lb/> hier.</p> <p type="main" id="id7907776">An Köhler schreibe ich heute sofort. Ich hätte<lb/> ihn auch sehr gern dabei. Die Schwierigkeit ist nur, dass<lb/> ich befürchte, er könnte an seiner Stelle Wertheimer<lb/> vorschlagen; und so sehr ich Wertheimer als Mensch schätze,<lb/> für die Redaktion halte ich ihn wegen seiner grossen<lb/>Einseitigkeit für ungeeignet. Vielleicht geht es aber gut.<lb/> Jedenfalls frage ich sogleich bei Köhler an. Lewin ist<pb/> auch sehr für Köhler.</p> <p type="main" id="id7908856">Für Russell interessiere ich mich z.Zt. sehr.<lb/> Ich arbeite mich durch seine Principles of Mathematics<note id="id7908928" n="2"> <p type="main" id="id7909072">Bertrand Russell, The principles of mathematics. Cambridge: Cambridge University Press 1903.</p> </note> <lb/> hindurch, u. lese zugleich seine knowledge of the<lb/> external world<note id="id7909144" n="3"> <p type="main" id="id7909216">Bertrand Russell, Our knowledge of the external world as a field for scientific method in philosophy. London: Allen and Unwin 1922.</p> </note>. Hier ist mir vor allem seine Definition<lb/> des „Ding“ problematisch, und ich würde sehr gern mal<lb/> mit Ihnen darüber sprechen. Russell ist wirklich einer<lb/> der ersten exakten Philosophen. Ich glaube, in den<lb/> deutschen Redaktions-Ausschuss könnte man ihn nicht<lb/> gut aufnehmen, weil die Übersendung der Manuskripte<lb/> zuviel Umstände macht; es müssen doch alle Manuskripte<lb/> bei allen Teilnehmern zirkulieren. Dagegen möchte ich<lb/> vorschlagen, dass Russell die Redaktion für englische<lb/> Manuskripte übernimmt; d.h. alle englischen Manus-<lb/> kripte gehen zuerst an ihn, u. er sendet sie mit<lb/> seinem Gutachten an uns. Wir geben dann auch noch<lb/> unser Urteil ab. Also für englische Manuskripte wäre<lb/> Russell Ausschussmitglied. Wenn Sie Russell dafür<lb/> gewinnen könnten, würde ich es als einen ausserordentlichen<lb/> Fortschritt betrachten.<pb/></p> <p type="main" id="id7909288">Dann aber sollten wir in Deutschland noch<lb/> einen Fünften haben. Gerade um die Geisteswissenschaften<lb/> zu berücksichtigen, habe ich an Jaspers gedacht. Aber<lb/> ich habe gegen ihn doch auch Bedenken und sehe<lb/> lieber jemand anders. Wie ist es mit Gerhards? Er ist<lb/> allerdings auch kein Geisteswissenschaftler. Ich kenne<lb/> ihn eigentlich gar nicht. Ich habe ihm von unserm<lb/> Plan geschrieben und erhielt beiliegende Antwort, aus<lb/> der Sie seine positive Einstellung zu uns ersehen können.<lb/> Ich wäre Ihnen für andere Vorschläge sehr dankbar.</p> <p type="main" id="id7906480">Über Carnaps Aufsatz<note id="id7906552" n="4"> <p type="main" id="id7906408">Rudolf Carnap, „Über die Aufgaben der Physik und die Anwendung des Grundsatzes der Einfachheit“. in: Kant-Studien, Bd. 28, 1923), S. 90-107.</p> </note> in d. Kantstudien denke<lb/> ich gerade wie Sie. Ich habe ihm meine Meinung darüber<lb/> schon damals sehr offen gesagt. Vor allem ist die Betonung<lb/> Dinglers sachlich und historisch ganz ungerecht. Er sieht<lb/> das jetzt auch wohl ein. Carnap ist ein Mensch, bei dem man<lb/> immer mal wieder auf eine grosse Kritiklosigkeit gefasst<lb/> sein muss, gegen fremde und leider auch gegen eigene<lb/> Arbeiten. Darum war ich mir mit Lewin schon in<lb/> Erlangen darüber klar, dass Carnap nicht in die Redaktion<lb/> aufgenommen werden darf; so sehr auch anerkannt<pb/> werden muss, dass er damals die Tagung zustande<lb/> gebracht hat. Übrigens hat er ein paar Blätter zur<lb/> Russellschen Symbolik vervielfältigt, die sehr praktisch<lb/> sind; hat er sie Ihnen geschickt? </p> <p type="main" id="id7906624">Selbstverständlich wird der Ausschuss stets,<lb/> wenn es nötig sein sollte, auch den Rat von Spezialisten<lb/> über einzelne Manuskripte einholen; z.B. gerade zur<lb/> symbolischen Logik. Hier dachte ich etwa an<lb/> Behmann oder Bernays, ohne dass ich sie für den<lb/> Ausschuss vorschlagen möchte. Natürlich kann man auch mal<lb/> ein deutsches Manuskript Russell<lb/> vorlegen, wenn es nötig wird.</p> <p type="main" id="id17025904">Ich habe übrigens an Hilbert über den Plan<lb/> geschrieben. Er hat mir noch nicht geantwortet und<lb/> wohl auch keine Zeit dazu. Wenn Sie gelegentlich ebenfalls<lb/> an Hilbert schreiben würden, so würde ich mich sehr<lb/> darüber freuen.</p> <p type="main" id="id17025976">Mit „Zeitschrift für exakte Philosophie“ bin<lb/> ich jetzt auch einverstanden. Wer sich dadurch gekränkt<lb/> fühlt, möge es tun. Aber nachdem Russell diese<lb/> Bezeichnung schon fast eingeführt hat, können wir sie<lb/> aufgreifen. Sie ist wesentlich besser als „mathematische<lb/> Philosophie“.</p> <p type="main" id="id17026048">Ich werde mich freuen, wenn ich von Ihnen bald<lb/> Ihre Ferienadresse erhalte, nur auf einer kurzen Karte, damit<lb/> ich Sie stets erreichen kann.</p> <p type="main" id="id17026120">Mit herzlichem Gruss Ihr</p> <p type="main" id="id17026192">Hans Reichenbach</p> <p type="main" id="id17026264"/> </chap> </body> </text> </archimedes>