<date/> <place/> <translator/> <lang>de</lang> <cvs_file>/REICHENBACH_AN_MS_19231103.xml</cvs_file> <cvs_version/> <locator/> </info> <text> <body> <chap> <pb/> <p type="main" id="id16934856">Hans Reichenbach an Moritz Schlick</p> <p type="main" id="id16934928"/> <p type="main" id="id16935000"/> <p type="main" id="id16935072">Dr. HANS REICHENBACH</p> <p type="main" id="id16935144">STUTTGART-OSTHEIM</p> <p type="main" id="id16935216">TECKSTRASSE 753. 11. 23.</p> <p type="main" id="id16935288"/> <p type="main" id="id16935360"/> <p type="main" id="id16935432">Lieber Herr Schlick, </p> <p type="main" id="id16935504">herzlichen Dank für Ihre Nachricht.<note id="id16935576" n="1"> <p type="main" id="id16935648">Moritz Schlick an Hans Reichenbach, Wien, 1. November 1923.</p> </note> Ich bin Ihnen für<lb/> Ihre Vorschläge ausserordentlich dankbar. Vor allem für<lb/> die Aussicht auf eine geisteswissenschaftliche Arbeit;<lb/> denn ich hatte schon befürchtet, dass das Warten darauf<lb/> wieder alles hinauszögern könnte. Ich kenne von Kaufmann<lb/> noch nichts, bin aber nach dem Thema sehr gespannt.<lb/> Könnten wir die Arbeit wohl im Anfang Dezember<lb/> erhalten? Bis wir dann das Ms. gelesen haben, wird es<lb/> doch Weihnachten, und dann möchte ich schon das<lb/> erste Heft in Druck geben.</p> <p type="main" id="id16935720">Dass Sie gegen Jaspers, Heidegger u. Geiger sind,<lb/> bestärkt mich in meiner Ablehnung gegen diese. Ich<lb/> glaube, Geiger kommt schon deshalb nicht in Frage, weil er<lb/> als Geistes-Philosoph garnicht so sehr hervorgetreten ist.<pb/> An Heidegger u. Jaspers habe ich geschrieben, natürlich ohne von Herausgeberschaft etwas zu sagen,<lb/> ich habe nur wegen Ms. angefragt, und nach seiner<lb/> prinzipiellen Stellung zu einer solchen Ztschr.<lb/> Von<lb/> Jaspers erhielt ich eine Antwort, die mir von seiner<lb/> Person einen sehr sympathischen Eindruck erweckt,<lb/> aber wohl erkennen lässt, dass eine Aufnahme unter<lb/> die Herausgeber nicht in Frage kommt. Er schreibt<lb/> übrigens, dass er durchaus nicht abgeneigt ist, gelegentlich<lb/> eine Arbeit bei uns zu veröffentlichen; und das ist ja<lb/> eigentlich genug. Von Heidegger habe ich noch keine<lb/> Antwort.</p> <p type="main" id="id16935792">Nun Scholz - ich habe jetzt auch wieder<lb/> mehr an ihn gedacht. Für ihn spricht, dass er<lb/> der naturwissenschaftlichen Richtung grosse Achtung<lb/> entgegenbringt; und das ist für ein gemeinsames<lb/> Arbeiten notwendig. (Das dürfte andrerseits wahrschein-<lb/> lich Heidegger ausschliessen!) Andrerseits -<pb/> ich weiss nicht, welche Stellung Scholz unter den<lb/> Geisteswissenschaftlern einnimmt. Kann er uns<lb/> wirklich die Verbindung mit produktiven Geistes-<lb/> wissenschaftlern herstellen? Glauben Sie, dass<lb/> wir uns auf Scholz’ Urteil über eine geisteswissen-<lb/> schaftliche Arbeit verlassen könnten? Ich habe,<lb/> offen gesagt, manchmal das Gefühl, als ob Scholz<lb/> nicht für alle Fragen kompetent ist, mit denen<lb/> er sich beschäftigt.</p> <p type="main" id="id16935864">Aber vielleicht ist das auch ein unberech-<lb/> tiges Misstrauen. Vielleicht ist Sch. gerade für<lb/> die Beurteilung von Arbeiten besser geeignet als für<lb/> die selbständige Produktion. Ich finde es auf jeden<lb/> Fall sehr schön von Sch., dass er, wie ich von andren<lb/> Seiten gehört habe, gerade die jüngere exakt-<lb/> philosophische Richtung zu fördern sucht. Ich<lb/> wäre also grundsätzlich für Scholz, und ich würde<lb/> mich freuen, wenn Sie meine Bedenken<lb/> zerstreuen würden.<pb/></p> <p type="main" id="id16935936">Nun Schjelderup. Ich hatte von ihm eine<lb/> zusagende Antwort, nur weist er auf die Gründung<lb/> einer skandinavischen Ztschr. -Scandinavian Scientific Review- hin und meint, dass<lb/> diese die Ms. aus Skandinavien an sich ziehen<lb/> würde. Ich bat ihn deshalb um Zusendung einiger<lb/> Nummern, u. bekam sie heute. Daraus geht hervor,<lb/> dass die Konkurrenz nicht gross ist. Einerseits<lb/> nimmt die Zs. auch psychologische u. pädagogische<lb/> Arbeiten auf, die bei uns wohl wegfallen würden;<lb/> andrerseits scheint mir nach den bei mir liegenden<lb/> Nummern, dass diese Zs. doch viel weniger auf<lb/> Forschung eingestellt ist, als auf die üblichen<lb/> ewig referierenden Darstellungen. Aber – es ist<lb/> zumindest fraglich, ob Schjelderup uns unter diesen<lb/> Umständen sehr nützlich sein könnte, er selbst<lb/> hat dort auch schon 2 Arbeiten publiziert.<lb/> Herausgeber ist er dort allerdings nicht.</p> <p type="main" id="id16936008">Es würde mir eben sehr viel daran liegen, auch<lb/> aus Skandinavien wirkliche Forschungsarbeiten zu<pb/> erhalten. Schjelderups eigene Arbeiten sind<lb/> eigentlich auch nicht so, wie wir es gern wollten.<lb/> Seine Arbeiten über Rel.Th. und über den Realitäts-<lb/> begriff sind auch mehr Referate als Forschung.<lb/> Ich finde sie nicht schlecht, und ihre Richtung sagt<lb/> mir zu. Aber sie sind eigentlich nicht produktiv.</p> <p type="main" id="id16932912">Oder ist mein Massstab allzustreng?<lb/> Schliesslich hat Schjelderup noch Entwicklungsmöglich-<lb/> keiten, er ist von uns allen der jüngste. Vielleicht kann<lb/> ihn die Berührung mit uns Deutschen gerade in die<lb/> Richtung der produktiven Arbeit treiben, und<lb/> es wäre schön, wenn unsere Ztschr. zugleich anregend<lb/> wirkte. Ich glaube, wir müssen ihn doch wohl unter<lb/> die Herausgeber nehmen - schon, weil wir niemand<lb/> sonst in Skandinavien wissen.</p> <p type="main" id="id16932984">Es ist schön, dass Sie an Köhler geschrieben haben.<lb/> Ich schreibe jetzt auch an ihn, u. will ihm auch noch gegen<lb/> Heidegger u. Jaspers schreiben. Ich schreibe ihm: am liebsten wäre es mir ohne weiteren<lb/> Herausgeber, wenn aber einen, dann Scholz.<lb/> Ich schicke Jaspers` Brief<lb/> an ihn, u. werde ihn bitten, ihn dann an Sie<pb/> weiterzuschicken.</p> <p type="main" id="id16933056">Noch eins: ich brauche für die 1. Nummer<lb/> noch Referate. Ich dachte an Russells Einführung i.d.<lb/> math. Philos.<note id="id16933128" n="2"> <p type="main" id="id16933200">Bertrand Russell, Einführung in die mathematische Philosophie. München: Drei-Masken-Verlag 1923. </p> </note>, u. schreibe deswegen an Behmann.<lb/> Sehr gern hätte ich nun von Ihnen eine Besprechung.<lb/> Ich habe noch nicht gewagt, Sie um eine Arbeit zu<lb/> bitten, weil ich weiss, wie sehr Sie besetzt sind. Würde<lb/> Ihnen aber nicht wenigstens eine Besprechung möglich<lb/> sein? Z.B. Becher, Natur- und Geisteswissenschaften<note id="id16933272" n="3"> <p type="main" id="id16933344">Erich Becher, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften; Untersuchungen zur theorie und Einteilung der Realwissenschaften. München u.a.: Duncker & Humblot 1921.</p> </note>?<lb/> Oder vielleicht haben Sie doch gerade etwas gelesen,<lb/> was Sie ohne Mühe besprechen könnten?</p> <p type="main" id="id16933416">Neulich hatte ich gerade einen Brief an<lb/> Frischeisen-Köhler geschrieben, u. wollte ihm mitteilen<lb/> von unserer Ztschr. - da erfuhr ich aus der Zeitung, dass<lb/> er gestorben ist. Er war einer von denen der alten Schule,<lb/> die für unsere Richtung noch Verständnis hatten. Sein<lb/> Tod ist sehr traurig. Ich wollte ihm schreiben, damit<lb/> unsere Gründung nicht als feindliche Konkurrenz<lb/> plötzlich auftaucht. Ich habe nun an Vaihinger<lb/> geschrieben, denn er ist schliesslich Gründer der Kant-<lb/> Studien u.d. Annalen; und es ist wohl eine Höflichkeits-<lb/> pflicht, ihn zu benachrichtigen. Er hat mir sehr nett geantwortet.</p> <p type="main" id="id16933488">Nochmals herzlichen Dank für Ihr Schreiben an Köhler<lb/> und die Gewinnung der Kaufmannschen Arbeit! Ihr</p> <p type="main" id="id16933560">Hans Reichenbach</p> <p type="main" id="id16933632"/> </chap> </body> </text> </archimedes>