Charakters im Objektivbegriff immer als das Wesentlichste bei Kant er-
schienen ist - vielleicht nur deshalb, weil ich persönlich diese Ge-
danken zuerst durch Kant gelernt habe. Es ist so schwer, zu sagen,
was Kant selbst für den Kern seiner Lehre gehalten haben würde.
Immerhin hat er doch in den Mittelpunkt seiner Lehre die transzen-
dentale Deduktion gestellt und damit versucht, die Evidenz als F o l -
g e des konstitutiven Charakters abzuleiten. In den Prolegomena
dreht er das Problem allerdings anders herum und nimmt die Evidenz
zum Ausgang. Dann wieder scheint es mir, dass er sich der Doppelbe-
deutung des a-priori-Begriffes nicht klar bewusst gewesen ist, sondern
beide Bedeutungen vermengte - ähnlich, wie man vor Einstein das
Problematische in der Identität von schwerer und träger Masse nicht
b e a c h t e t hat, obgleich diese Trennung nicht u n b e k a n n t
war. Auch glaube ich, aus meiner grossen Hochachtung gegen Kant heraus,
dass er, wenn er heute lebte, die Relativitätstheorie anerkennen
würde, und seine Philosophie ändern würde; und ich würde Kant gern
vor den Kantianern bewahren. - Aber, ob man meine Ideenrichtung dann
noch Kantianismus nennen soll, ist nur noch eine terminologische
Frage, und wohl besser zu verneinen.

Nun zur Frage der G e o m e t r i e. Ich gebe Ihnen zu, dass
auch jetzt noch eine euklidische Geometrie durchführbar wäre, und
teile also Ihren und Einsteins Standpunkt. Aber das geht nur, wenn
man, wie Sie ja auch betonen, gewisse a n d e r e Forderungen auf-
gibt. Gerade an dieser Alternative ist mir eigentlich am meisten
gelegen, und ich sehe einen wesentlichen Teil der philosophischen
Arbeit (wenn auch keineswegs die g a n z e !) darin, solche Alter-
nativen klar heraus zu stellen. In dieser Absicht sind Abschnitt 2
und 3 meines Buches geschrieben. Die dort gegebenen Prinzipientafeln
(S.15 und 29) (5) closeNote

Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 15 und S. 29.

sollen vor ein solches "Entweder - oder" führen. Die
meisten Einwände der Philosophen (wie z.B. Kraus, Sellien (6) closeNote

Vgl. Oskar Kraus, „Fiktion und Hypothese in der Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen', in: Annalen der Philosophie, Bd. 2, H. 3, 1921, S. 335-396 und Ewald Sellien, „Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie', in: Kann-Studien, Ergänzungsheft 48, 1919.

u.a., die
die Relativitäts-Theorie nicht verstanden haben) scheinen mir
darauf zu beruhen, dass sie nicht bemerken, wie mit der Durchführung
der euklidischen Geometrie andere Prinzipien, die ihnen ebenso heilig